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Erwachsenwerden schwer gemacht

Im Armenviertel von Palermo, in der nordfranzösischen Provinz der 1990er Jahre, in einer Zeugen Jehovas Gemeinde im ostdeutschen Dorf der Nachwendezeit und im rauen West-Berlin, ebenfalls nach der Wende. Hier spielen diese lesenswerten neuen Romane. Hier wachsen die jungen Protagonisten auf. Vier vollkommen unterschiedliche Settings, vier vollkommen unterschiedliche neue Romane. Aber alle unbedingt empfehlenswert!

Die Verhältnisse, in denen diese jungen Menschen sehr schnell erwachsen werden müssen, sind dabei keineswegs leicht: Umgeben von Armut, Perspektivlosigkeit, Drogen, häuslicher und sexueller Gewalt, psychischem Druck einer Sekte. Wie unterschiedlich man an diese Themen herangehen kann, zeigen die Autor/innen ganz hervorragend. Sehr interessant ist dabei der Blick auf ihre eigene Herkunft, denn da wird schnell klar, dass sie wissen, wovon sie schreiben. Es sind zwar alles fiktionale Texte, doch ist bei allen Autobiografisches miteingeflossen. Das spürt man deutlich, denn die Bücher sind allesamt authentisch und glaubwürdig.

Nicolas Mathieu, für seinen Roman „Wie später ihre Kinder“ mit dem Prix Goncourt 2018 ausgezeichnet, nimmt uns mit in die französische Provinz der 1990er Jahre. Über vier Sommer hinweg begleiten wir Anthony und seine Freunde, wobei sich die Umstände immer weiter zuspitzen. Der Ort Heillange ist geprägt von den Auswirkungen der Schließung des Stahlwerks. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Armut, Gewalt und Drogenmissbrauch. Wie kann es gelingen, dem zu entrinnen? Nur durch Weglaufen, so scheint es. Haben die Menschen in dieser Region keine Zukunft? Angesichts der aktuellen Lage Frankreichs und der Gelbwesten-Bewegung, gibt dieses Buch einen deutlichen Einblick in die Lebensrealität der Franzosen, die nicht zur Bildungselite gehören, die das Land regiert und die nicht in Paris wohnen, wo alles entscheiden wird. 

Noch drastischer und prekärer sind die Verhältnisse, in denen Celeste, Mimmo und Cristofaro in Giosuè Calaciuras Roman „Die Kinder von Borgo Vecchio“ aufwachsen. Die Eltern der drei sind Betrüger, Gewalttäter, Huren und Säufer. Es ist schwer zu ertragen, was diesen Kindern zugemutet wird. Die Sprache, in der Calaciura erzählt, ist poetisch und wunderschön. Sie steht im krassen Gegensatz zu dem, was inhaltlich mit ihr erzählt wird. Ein spannendes Stilmittel, das irritiert.

Auch hier geht es um Auswege und die Suche danach. Für die Kinder ist klar, das Geld und Macht helfen. Wer beherrscht die Straßen, strahlt Autorität und Macht aus? Leider ist es der Obergangster des Viertels, Totò, der den Kindern als Idol dient. Doch ist sein Leben so wünschenswert? Auch Totò träumt von einem anderen…

Stefanie de Velasco wuchs selbst bei den Zeugen Jehovas auf, genau wie ihre Romanheldin Esther. Ein eindrucksvoller, emotionaler und starker Roman über eine junge Frau, die sich befreit. Mit dem Erwachsenwerden kommt auch das Hinterfragen. Warum leben wir so, wie wir es tun? Geht es auch anders? Geht es besser? Was will ich eigentlich und wohin? Dabei kann man sich kaum vorstellen, wie es für eine junge Frau sein muss, in der Enge einer religiösen Sekte zu leben, deren strenge Regeln kein Ausscheren erlauben. Dank dieses Buches können wir es!

Im Mittelpunkt von Lene Albrechts Roman „Wir, im Fenster“ steht die besondere Freundschaft zweier Mädchen, die im West-Berlin der Nachwendezeit aufwachsen. Eine raue Umgebung: Spritzen im Hausflur, Prostituierte auf der Straße. Laila und Linn sind unzertrennlich, teilen alles miteinander und geben sich gegenseitig Halt. Doch in diesem Sommer geschieht etwas, das die beiden für immer auseinanderbringt. Das Besondere an diesem Buch ist die kunstvolle Verwebung der Zeit- und Handlungsstänge. Es ist ein literarisches Puzzle, eine Collage, die nach und nach preisgibt, was geschehen ist.